Räume öffnen
Kunsttherapie im Justizvollzug
herausgegeben von
Alfred Haberkorn, Manuela Hemmann et al.
Mit zahlreichen, teils ganzseitigen farbigen Abbildungen
Details zum Buch:
Seitenanzahl: 212
Erscheinungsjahr: 2016
Format: 22,0 cm x 24,0 cm
Einband: Broschur
Gewicht | 0,71 kg |
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19,80 € (inkl. MwSt., zzgl. Versand)
Die Kunst vermag es, Inhaftierte aus ihrer Isolierung zu holen und im Herzen zu erreichen.
Sie öffnet Räume, bietet Anlässe, um wieder Hoffnung zu schöpfen, lädt ein, neue Wege zu sehen und sie zu gehen.
Seit vielen Jahren gibt es in fast allen sächsischen Justizvollzugsanstalten festangestellte Kunsttherapeuten, welche die bestehenden Behandlungsangebote um eine individulle und ressourcenorientierte Facette erweitern.
„RÄUME ÖFFNEN“ möchte praxisnahe Einblicke in die vielfältigen Möglichkeiten und Formen der kunsttherapeutischen Arbeit mit inhaftierten Menschen geben und dazu ermutigen, diese Ansätze weiterzuentwickeln.
www.kunstimgefaengnis.de
Rezension:
Johanna Gunkel in: Kunst & Therapie – Zeitschrift für bildnerische Therapien, 2017/1
„Das Buch „Räume öffnen – Kunsttherapie im Justizvollzug“, herausgegeben von Alfred Haberkorn, Manuela Hemmann, Antje Grüner und Susanne Koch, ist eine Bereicherung nicht nur für die im Justizvollzug arbeitenden Kunsttherapeuten.
Die im sächsischen Strafvollzug fest eingebundene Kunsttherapie wird in diesem Buch von allen Seiten beleuchtet, jeder Kunsttherapeut beschreibt in einem oder mehreren Kapiteln seine Arbeit, zahlreiche Fallbeispiele ermöglichen einen differenzierten Zugang zu der speziellen Welt hinter Gittern.
Mein erster Kontakt zum Justizvollzug, und hier speziell zur Kunsttherapie, fand erst vor wenigen Jahren statt, als ich in der JVA Köln ein kunsttherapeutisches Praktikum absolvierte. Der besondere Kosmos dort hat mich sehr fasziniert, so dass ich mich auf die Suche nach fundierter Literatur machte, im deutschsprachigen Raum jedoch nicht befriedigend fündig wurde.
Dies nahm ich zum Anlass, selbst eine Studie zu den Wirkfaktoren der Kunsttherapie in der JVA zu erstellen; darüber habe ich in dieser Zeitschrift an früherer Stelle berichtet (Heft 2016/1).
Umso gespannter war ich, inwieweit dieses nun erschienene Buch meinem Anspruch nach fundierter Information gerecht werden könnte. Es bezieht sich ausschließlich auf die Kunsttherapie im sächsischen Strafvollzug, dem bisher einzigen Bundesland, das in seinem Justizvollzug die Kunsttherapie fest verankert hat. Der regionale Bezug stellt hier jedoch keine Einschränkung dar, denn zum einen lassen sich die Praxisbeispiele verallgemeinern, zum anderen zeugt dieses Buch von der unbestritten wichtigen Rolle der Kunsttherapie im Justizvollzug und besitzt daher modellhaften Charakter.
Aufbau und Gliederung des Buches geben dem Leser eine gute Orientierung. In einem Einführungsteil werden generelle Themen zur Kunsttherapie im Justizvollzug abgehandelt, der Hauptteil widmet sich in 18 Kapiteln den Berichten aus der Praxis. Den Schluss bildet ein kurzer Autorenüberblick.
Die Einführung zur Kunsttherapie im sächsischen Strafvollzug wurde von Willi Schmid geschrieben, Abteilungsleiter Justizvollzug des sächsischen Staatsministeriums der Justiz. Anschaulich beschreibt er aus seiner persönlichen Sicht die Nützlichkeit der Kunsttherapie. Dass er als leitender Mitarbeiter des Ministeriums der Kunsttherapie so positiv gegenübersteht, ist dabei besonders wertvoll.
Anschließend lässt uns Alfred Haberkorn, Leiter des Kreativzentrums der JVA Zeithain, an seiner Wertschätzung der fest installierten Kunsttherapie in der JVA teilhaben. Dem folgt Kaja Schumacher, die in ihrem Beitrag auslotet, inwieweit „Freisein lernen“ Teil der Therapie in Haft sein kann und zeigt dabei auf, wie schwierig es sein kann, mit den Auswirkungen von Freiheitsentzug umzugehen. Zusätzlich setzt sie sich mit den für alle kunsttherapeutisch arbeitenden Menschen wichtigen leitenden Fragestellungen auseinander: Was kann Kunst bewirken, was sind die Wirkmechanismen von Therapie, welche Möglichkeiten oder Grenzen haben beide Felder, wo beginnt der künstlerische Akt, inwieweit greift derTherapeut in das Leben seines Klienten ein? Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist für alle Kunsttherapeuten wesentlich, denn sie gewährleistet, dass der Standpunkt der eigenen Arbeit immer aufs Neue kritisch hinterfragt werden kann.
Im vierten und letzten Beitrag des Einführungsteils beschreibt Alfred Haberkorn das Kreativzentrum der JVA Zeithain und stellt es als eine Therapieeinrichtung vor, die einmalig in Deutschland, vielleicht sogar weltweit, ist. In einem ehemaligem Schulgebäude untergebracht, finden dort zahlreiche künstlerische Angebote statt: Malen, Zeichnen, Steinbildhauerei, Arbeiten in Ton, Korbflechten sowie Stricken/Häkeln; darüber hinaus werden auch die ARBEIT AM TONFELD©, theater- und kreativtherapeutische Familienarbeit sowie bildnerische Krisenintervention angeboten.
Weiterhin gibt es dort Musikunterricht, Musikprojekte, Musikaufnahmen und Konzerte. Haberkorn beschreibt das komplette Konzept des Kreativzentrums, ebenso lässt er Inhaftierte in ausgesuchten Zitaten zu Wort kommen.
Nach der Lektüre dieses Beitrags steht für mich die Frage im Raum:
Warum gibt es das nicht in allen Bundesländern?
Gut eingestimmt kann ich mich ganz in Ruhe dem Hauptteil des Buches widmen. Er umfasst über 160 Seiten, auf denen die im Justizvollzug Sachsen arbeitenden Kunsttherapeuten anhand von Fallbeispielen ihre Arbeit darlegen. Schon beim ersten Durchblättern bleibe ich an den Zitaten der Inhaftierten und an den oft ganzseitigen Bildern hängen, lese freudig quer durchs ganze Buch und denke: Wie vielfältig und intensiv wird hier die Kunsttherapie lebendig!
Exemplarisch möchte ich hier einen Beitrag herausgreifen und ausführlich darauf eingehen. Gleich der erste Beitrag handelt von der Kunsttherapie im Frauenvollzug und weckt, da auch ich mit Frauen in einer JVA arbeite, mein Interesse sofort: Susanne Koch berichtet hier von ihrer Arbeit in der JVA Chemnitz. Einfühlsam schildert sie zunächst die besondere Situation von Frauen in Haft. So führt sie beispielsweise an, dass etwa nur fünf Prozent aller Inhaftierten in Deutschland Frauen sind. Für diese sei die Haftsituation wesentlich belastender als die der inhaftierten Männer, weshalb sie auch anfälliger für haftbedingte Anpassungsstörungen seien. Koch führt dazu aus, dass weibliche Inhaftierte sich sozial mehr ausgegrenzt fühlen und sich mit Schuldgefühlen plagen, ihre Familie im Stich gelassen zu haben. Insbesondere würden sie unter der Trennung von ihren Kindern leiden, die sie oft in für sie ungewissen Situationen lassen müssen. Hinzu komme, dass viele der Frauen die Straftat innerhalb einer abhängigen Beziehung begangen haben. Dieses müsse im Zusammenhang mit dem geringen Selbstwertgefühl der inhaftierten Frauen gesehen werden, das wiederum auf schwierigste Familienverhältnisse bereits in ihrer Kindheit zurückgeführt werden könne, zum Teil auch geprägt sei durch frühe Erfahrungen von Gewalt und Missbrauch. Den streng geregelten Haftalltag würden diese Frauen als festigende Struktur erleben. Hier setzt Koch mit der Kunsttherapie vor Ort an und bietet den Frauen die Möglichkeit, aus der Passivität in das gestalterische Tun zu kommen. Es wird ein geschützter Raum geboten, in dem den aufkommenden Gefühlen begegnet werden kann. Im kunsttherapeutischen Einzelsetting geht es Koch vornehmlich darum, neu Inhaftierte zu stabilisieren, so dass sie überhaupt Vertrauen in andere und somit auch in sich selbst entwickeln können. Die Einzelstunde wird mit einem kleinen Ritual eingefasst: Es werden kleine Resonanzbilder jeweils am Anfang und am Ende der Stunde erstellt, mit Datum und einem spontanen Wort/Satz auf der Rückseite versehen. Dieses Ritual wirkt haltgebend und stärkend. Auf einer Doppelseite des Buches ist beispielhaft eine solche Reihung abgebildet, die mir verdeutlicht, wie wichtig und gefühlvoll diese kleinen Skizzen sind. Ich kann gut nachvollziehen, dass dieses Ritual auch Tore zu den oft verschütteten Gefühlen öffnet, denn gerade im schnell und spontan Entstandenen spiegeln sich unbewusste Anteile. Dieses Ritual ist mit Sicherheit auch für außerhalb der JVA arbeitende Kunsttherapeuten anregend!
Über das Vorgehen im Einzelsetting hinaus, bietet Koch die Arbeit im offenen Atelier an, die sie im zweiten Teil ihres Beitrags beschreibt. Da dort das freie Arbeiten im Vordergrund steht, bietet die allen Kunsttherapeuten bekannte Verunsicherung bei Menschen, die noch niemals gestalterisch tätig waren, einen Ausgangspunkt für das Vorgehen. Sehr genau veranschaulicht Koch den Prozess, den die Frauen in der Auseinandersetzung mit dem eigenen Anspruch und dem entstandenen Werk durchlaufen. Auch die Furcht vor dem ersten Strich findet bei ihr Platz. Die Möglichkeiten, dann weiter zu machen, sind klug analysiert und sofort nachvollziehbar, nicht nur für Kunsttherapeuten, die mit Inhaftierten arbeiten. Hier beschreibt sie detailliert Prozesse, die sich in jedem Atelier abspielen. – Ich bin gedanklich ganz dabei, erkenne auch das Besondere der Kunsttherapie im Vollzug wieder. Von Susanne Koch erfahren wir in einem anderen Kapitel zusätzlich Kurznachrichten aus dem Frauengefängnis.
In den weiteren, ebenso anregenden wie informativen Beiträgen zeigt sich, wie vielfältig und sinnvoll die Kunsttherapie im Justizvollzug eingesetzt werden kann: Kaja Schumacher gibt Einblicke in den Atelier-Alltag des Jugendstrafvollzugs. Alfred Haberkorn berichtet über Musikprojekte mit Inhaftierten und lässt uns teilhaben an der Porträtarbeit mit männlichen Inhaftierten, ebenso erläutert er das Konzept der Krisenintervention. Warum Theaterprojekte im Gefängnis Sinn machen erklärt Antje Grüner, wir erfahren außerdem mehr über das biografische Theater. Überdies berichtet sie davon, wie Gefangene mit Theatertexten von sich selbst erzählen. In die Welt des räumlichen Gestaltens nimmt uns Astrid Goldhardt mit. Ebenfalls die ARBEIT AM TONFELD© im Vollzug wird von ihr vorgestellt. Stefan Lohrke berichtet anhand eines Roboter-Projekts aus dem Jugendstrafvollzug. Astrid Bootz erläutert das Konzept der Zugangsphase auf der Sozialtherapeutischen Station. Kerstin Schrems lässt uns teilhaben an der Kunsttherapie im Kontext der Sicherungsverwahrung. Über ein Maskenspielprojekt referiert Yvonne Dick. Und Manuela Hemmann berichtet von ihren Erfahrungen in der entlassungsübergreifenden Begleitung, schildert das Ausdrucksmalen in der Nachsorge und beschäftigt sich im letzten Kapitel mit dem Potential des Ärgers.
Dieses Buch ist für alle Kunsttherapeuten eine Bereicherung. So viele verschiedene Ansätze, veranschaulicht mit nachvollziehbaren Fallbeispielen, sind anregend für jeden, der im Bereich Kunsttherapie tätig ist.
Fast die gesamte Bandbreite der Kunsttherapie wird hier vorgestellt.Für alle Kunsttherapeuten, die sich mit dem Justizvollzug beschäftigen, ist es ein „must-have“. In mannigfaltigen Beispielen erfahren wir detailliert über die Arbeit der Kunsttherapeuten im sächsischen Vollzug. Deutschlandweit ist die Wertschätzung und Integration in strukturelle Abläufe,wie sie die Kunsttherapie im Vollzug in Sachsen erfährt, wirklich einmalig. Andernorts sind die meisten Kunsttherapeuten im Vollzug nicht ausreichend in ein Team eingebunden. Oft nur projektweise „eingekauft“, dabei ohne Möglichkeit, sich mit dem psychologischen Team auszutauschen, geschweige denn, Akteneinsicht zu bekommen, müssen sie sich als Einzelkämpfer und ohne Unterstützung durchdie Vollzugsbeamten bewähren, denen ihre Arbeit unverstanden bleibt. „Räume öffnen“ ist ein gut gewählter Titel: Das Buch vermittelt, wie sich durch die Kunsttherapie bei den Inhaftierten innerlich Räume öffnen können. Es wird aber auch deutlich, dass es wichtig ist, überhaupt im Vollzug den Raum für die Kunsttherapie zu öffnen!Diese spannende und abwechslungsreiche Lektüre ist ein überzeugendes Plädoyer dafür, dass die Kunsttherapie in jede JVA gehört. Die angestrebte Resozialisierung kann nur passieren, wenn es Räume gibt, in denen die Inhaftierten die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu begegnen und sich mit ihren Taten auseinanderzusetzen. Im geschützten Rahmen der Kunsttherapie ist dies gegeben. Dort erfahren sie die notwendige Begleitung, können Strukturen in ihrem Leben verstehen und sich neue, konstruktive Handlungs- und Lösungsoptionen erarbeiten. – Dieses Buch sollte in jedem Justizministerium und dort vor allem den Abteilungsleitern des Justizvollzugs als Pflichtlektüre vorliegen!”
Kontakt: Johanna Gunkel
johanna.gunkel@nonsenso.de