Flucht und Vertreibung vor 70 Jahren
Wir erinnern uns – Zeitzeugen berichten
von Günter Hofmann
Details zum Buch:
Seitenanzahl: 362
Erscheinungsjahr: 2015
Format: 14,8 cm x 21,0 cm
Einband: Broschur
Gewicht | 0,5 kg |
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14,90 € (inkl. MwSt., zzgl. Versand)
„Es geschahen vor 70 Jahren – Flucht und Vertreibung. Mir ist es wichtig, dass diese Dramatik nicht in Vergessenheit gerät. Die Erinnerung soll dazu dienen, über Ursachen und Fehlverhalten nachzudenken, die die Menschheit schon zu oft an den Rand von Abgründen geführt haben. Wenn heute rücksichtslos Politik und Wirtschaft betrieben werden, die langfristig – deshalb nicht sofort erkennbar – auf einen gefährlichen Ausgang zusteuern, dann kann vielleicht die Erinnerung an bereits erlittene Katastrophen lehr- und hilfreich sein.“
Günter Hofmann
Befreiende Memoria
Vorwort von Rupert Neudeck
Günter Hofmann hat mit seinem Buch eine Epoche deutscher Zeitgeschichte ans Licht gebracht, die in den letzten sieben Jahrzehnten schmählich vernachlässigt worden ist.
Die Vernachlässigung geschah weniger absichtlich und subjektiv, sie ergab sich durch verschiedene Motive und Momente. Der Kalte Krieg und die Systemauseinandersetzung ließen das besondere Aufarbeiten der Leiden der vertriebenen Deutschen kaum zu.
Im Osten noch mehr als im Westen. Im Westen hatte das Volk der Täter – wie man sagte – kein Anrecht auf das Verbinden der geschlagenen Wunden und das Ausheilen der dabei erlittenen Traumata. Das Volk der Täter hat über seine Wunden zu schweigen, sagte der politisch korrekte Volksmund. Menschen in der damaligen DDR durften keine Vertriebenen sein, hatte doch Josef W. Stalin sich mit Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill über eine humane Umsiedlung geeinigt. In der westdeutschen Bundesrepublik galt es mit den über zwölf Millionen Flüchtlingen aus Ost-Deutschland, aber auch aus Rumänien (Siebenbürgen), Slawonien und dem Banat fertig zu werden, die nicht in ein blühendes Wirtschaftswunderland kamen, sondern in ein Deutschland, dass auch wirtschaftlich total am Boden lag und von der ganzen Welt zu Recht verachtet wurde.
Deshalb haben die Vertriebenen bis heute nicht den Respekt für ihre Lebensleistung erhalten, der ihnen zustand und zusteht. In der Vergangenheitsform wollte ich das deshalb sagen, weil ich in den letzten Monaten neben diesem Buch von Günter Hofmann auch andere Erlebnis- und Erinnerungsbücher vorfinde, die alle zu einer Zeit erscheinen, in der die Generation unserer Eltern schon lange gestorben ist. Für sie wäre es ein nicht geringer Trost und im schönsten Sinne des deutschen Wortes eine Genugtuung gewesen, solche Lebenszeugnisse wahrzunehmen und zu lesen.
Auch dieses Buch macht noch einmal deutlich, was vor Jahren der aus dem Osten stammende Historiker Christian Graf Krockow in einem Buchtitel „Die Stunde der Frauen“ nannte. Was damals die Frauen und Mütter geleistet haben, das muss wenigstens in das Geschichtsbuch der Deutschen eingehen. In die Aktivitäten der in der Moderne so groß gewordenen emanzipatorischen Frauenbewegung ist diese Zeit und sind diese unglaublich vorbildlichen Frauen und Mütter nie einbezogen. Leider, muss man sagen.
Ich selbst muss bekennen, dass mich solche Erinnerungen immer an die Zeit denken lassen, als ich selbst mit der eigenen Mutter, den drei Geschwistern, zwei Brüdern und einer älteren Schwester auf dem Treck unterwegs war im Juni 1945. Diese Kraftanstrengung, die Familie und die Kinder zusammenzuhalten, und das alles ohne die Väter und Männer, die da irgendwo noch entweder im Krieg oder schon in Kriegsgefangenschaft waren, die gilt es bis heute vor der deutschen Geschichte zu würdigen. Was die Mutter von uns vier Neudeck-Kindern geleistet hat, werden wir ihr auch nach dem Tode nicht wiedergutmachen und zurückgeben können.
Alles das, was wir in unserem Leben heute in der Ordnung einer industrialisierten Republik für selbstverständlich halten, der Schutz von Kindern, zumal von Kleinkindern, der Respekt vor den Frauen und den Müttern war damals nicht nur nicht präsent, es war das Gegenteil, was wir Kinder erlebten. Unsere Mutter war während des Fluchtweges gefährdet durch die Gefahr einer Vergewaltigung und des Abtransportiert-Werdens nach Sibirien an jeder Weg-Ecke und an jedem Hauseingang.
Das von Günter Hofmann herausgegebene Buch wirkt auf mich wie eine gute Botschaft: Denn nur wenn wir uns erinnern können, kann die Memoria an die furchtbar schweren Zeiten am Ende des Kriegs und nach 1945 befreiend sein. Man liest das Buch auch befreit, weil uns deutlich wird, dass wir in unserer Zeit und unserem Land keine Angst haben müssen, weder um das Überleben noch um unsere Sicherheit. Es sind Geschichten, die das Buch aufblättert, die mit Herzblut geschrieben sind. Menschen verloren ihre Heimat, es geht mir als Leser durch Mark und Bein, wenn in dem Bericht von Esther Neugebauer die Vertreibung von Frühjahr 1948 beschrieben wird. Die Vertriebenen saßen in einem Viehwagen der Eisenbahn mit 60 Personen. Der Zug fuhr die ganze Nacht hindurch, und die Vertriebenen sangen: „Nun ade, Du mein lieb Heimatland“. Da kommen einem im Erinnern an die eigene Flucht die Tränen.
Ich selbst war am 30. Januar 1945 als noch Fünfjähriger Zeuge unseres Wegs von Danzig-Langfuhr nach Gdingen, heute Gdynia. Damals hatte der Hafen den Nazinamen Gotenhafen. Wir kamen in diesem klirrend kalten Winter durchgefroren im Hafen an, ein Schiff war gerade mit über 10.000 Flüchtlingen ausgelaufen. Ein Onkel kam auf meine Mutter zu und sagte: „Mein Gott, Gertrud, warum kommst Du so spät, ich hatte noch Karten für das Schiff!“. Das Schiff war die MS Wilhelm Gustloff, am späten Abend hörten die Erwachsenen und wir Kinder in einem warmen Seemannsheim, dass die Wilhelm Gustloff von drei Torpedos der sowjetischen Rotbannerflotte getroffen worden war und über 9.300 Flüchtlings-Passagiere in den Fluten der Ostsee ertrunken und erfroren waren.
Daraus haben wir Neudecks einen neuen Überlebens-Grundsatz für uns gezimmert. Manchmal wird der, der zu spät kommt, vom Leben belohnt. Also anders als der Gorbatschow Satz wirkt die Weisheit der Lebenserhaltung manchmal auch umgekehrt:
Wer zu spät kommt, den belohnt das Leben.
Das Buch versammelt Zeugnisse noch lebender Zeitgenossen aus dem Osten Deutschlands und darüber hinaus, voller bewegender Einzelheiten und Facetten. Es ist gut, dass wir uns angesichts der tragischen Flüchtlingsströme aus Syrien, aus dem Nord-Irak, aus Eritrea und ganz Afrika immer wieder an die eigene Fluchtsituation zurückerinnern. Und daraus das lernen, was der lateinische Weisheitsspruch uns gesagt hat: „Hoc meminisse iuvabit“. „Sich daran zurückzuerinnern, wird helfen“, das eigene Leben in Gegenwart und Zukunft zu bewältigen – und anderen, die jetzt in dieser lebensbedrohlichen Situation zu überleben hoffen, beizustehen.
Rupert Neudeck